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Gelesen: Notfallkontakte von Esther Becker

Dienstag, 9. September 2025

von Clara Maj Dahlke

Notfallkontakte von Esther Becker im Gepäck bin ich campen an einem See in Brandenburg, lese die Erzählungen also zwischen Schwimmzügen und Sonnenbädern.  


Weil Beckers erster Roman Wie die Gorillas, einen ganz bestimmten Platz in meinem Herz und Bücherregal hat - er füllt die Lücke, wo lange eine Sehnsucht nach einer realistischen Erzählung über girlhood aus dem deutschsprachigen Raum war - habe ich mich sehr auf ihre Erzählungen gefreut. Wie die Gorillas sind sie im Verbrecher Verlag erschienen, der mit dem Cover mal wieder komplett abgeliefert hat.


Die Geschichten glänzen, wenn sie, wie Esther Becker es schon in ihrem Roman so meisterinnenhaft macht, lakonisch in mehr oder weniger alltäglichen Situationen trauriges und komisches finden und in Beschreibungen und Dialogen pointiert herausstellen.  Zum Beispiel, wenn eine Frau sich als baldige Braut auf einem Junggesellinnenabschied in einer Karaokebar findet, auf dem sie keine der Junggesellinnen wirklich mag oder kennt und stattdessen mit dem Barkeeper bondet.  


"Das ist ein sehr apokalyptisches Lied, hatte [die DJ] warnend geäußert, außerdem ist es in Moll.  

Ich weiß, hatte die baldige Braut geantwortet." 


Außerdem gefällt mir einer von mehreren Trennungstexten besonders gut: in der titelgebenden Geschichte Notfallkontakte mischt sich ein selten schwerer Liebeskummer in einen Krankenhausbesuch beim Vater der Erzählerin ein, was dazu führt, dass erwartete Dynamiken verschoben werden.  


"Mit bebendem Rücken ziehe ich mir einen weiteren Kakao. 

Willst du auch noch was? 

Meine Stimme verrät mich. Ich will entdeckt werden. 

Nein danke, sagt mein Vater. 

Und dann: Ich glaube ich mache mir gerade genauso viele Sorgen um dich wie du dir um mich."  


Schwere Themen wie Trennungen und andere Enden erzählt Becker mit einer einnehmenden Leichtigkeit. Etwas zu leicht sind mir dafür die Texte, in denen mit Zeilenumbrüchen gearbeitet wird - entgegen meiner Erwartung verdichten sie weniger als die Prosatexte, verlieren dadurch an Präzision und von den Bildern bleiben wenige haften. Auch die Geschichte über ein schwarzes Loch in der Küche verliert mich in ihrer Seltsamkeit, wo genau die an so vielen anderen Stellen überzeugt.  


Sehr eindrucksvoll ist dafür Der Prozess, der die Gerichtsverhandlung um Giséle Pelicot und ihre 51 Vergewaltiger aus Perspektive einer Zeichnerin einfängt, die die Täter karikieren soll. Wie zwei weitere Texte, Man stelle sich vor und Die Schlange, bringt er einen dokumentarischen Aspekt in den Erzählband.  


Wegen der richtig guten Geschichten ist Notfallkontakte am Ende eine Empfehlung von mir - eine gemischte Tüte zum zwischendurch wegsnacken im Alltag oder im Ganzen an einem Seetag genießen.



Notfallkontakte von Esther Becker

Erschienen im Verbrecher Verlag, August 2025

Hardcover, 112 Seiten

20 Euro

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